Co-Abhängigkeit - wenn Beziehungen krank machen
Jörg Schaller im Interview, 05/23, Lesezeit: 4 Minuten
Jörg Schaller ist seit 2022 Dozent an der ALH-Akademie. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt er, was es mit dem Konzept der Co-Abhängigkeit auf sich hat. Herzlichen Dank für das Interview!
Das Leben ist geprägt von Höhen und Tiefen. Insbesondere die schweren Phasen lassen sich dann leichter bewältigen, wenn eine nahestehende Person für uns da ist. Gerade bei der Bekämpfung eines möglichen Suchtverhaltens kann es umso mehr helfen, wenn Unterstützung angeboten wird. Doch was, wenn sich daraus eine Beziehungsstörung entwickelt, in der die helfende Person sich selbst in eine Abhängigkeit begibt?
Was ist eine Co-Abhängigkeit?
Damit sich eine Co-Abhängigkeit entwickeln kann, müssen immer zwei Personen beteiligt sein: einerseits jemand mit einer Abhängigkeit wie beispielsweise einer Alkohol- oder Spielsucht, andererseits eine Person, die helfen, retten oder beschützen möchte. In den meisten Fällen ist die helfende Person jemand aus dem nächsten Umfeld – ein Familienmitglied oder Partner.
In Ausnahme- oder Krisensituationen ist dieses kurzfristige Hilfsangebot kein ungewöhnliches Verhalten innerhalb einer Beziehung. Die helfende Person möchte für Sicherheit sorgen und für einen begrenzten Zeitraum Verantwortung für die nahestehende Person übernehmen. Je länger diese Situation aber andauert, desto schwerer kann es der nicht-süchtigen Person fallen, loszulassen und sich aus dieser Situation zu lösen. Die Folge: ein Co-abhängiges Verhalten manifestiert sich. Das bedeutet auch, dass die Beziehung dann nicht mehr auf Augenhöhe gelebt wird oder Gleichberechtigung besteht. Je länger die Co-Abhängigkeit anhält, desto schwerer kann dieser Kreislauf alleine durchbrochen werden.
Wie entsteht eine Co-Abhängigkeit?
Ein Co-abhängiges Beziehungsverhältnis beginnt oft kaum wahrnehmbar und ist selten eine bewusste Entscheidung. Bei vielen Menschen mit Co-abhängigem Verhalten werden die Grundsteine dafür schon im Kindesalter gelegt. Ein Auslöser kann beispielsweise sein, wenn in der eigenen Familie früh Verantwortung übernommen werden musste, damit alles wie gewohnt weiterläuft. Das trifft insbesondere auf Kinder zu, die sich in jungen Jahren längere Zeit um körperlich oder psychisch erkrankte Eltern kümmern mussten. Diese frühen Erfahrungen prägen das spätere Erwachsenenleben und wirken sich auf die eigenen Beziehungen aus. Selbst erlebte und von den Eltern gelernte Rollen setzen sich fort und man fühlt sich zu ähnlichen Charakteren in einer Beziehung hingezogen. Dabei neigen Frauen häufiger zu Co-abhängigem Verhalten und begeben sich in die Rolle der helfenden Angehörigen.
Es lassen sich drei Phasen identifizieren, die aber nicht zwingend in der immer gleichen Reihenfolge ablaufen müssen. Zu Beginn, die Beschützerphase: Die körperlich gesunde, psychisch stabilere, helfende Person stellt fest, dass mit dem Partner etwas nicht stimmt. Sie hat Hoffnung, dass die Sucht des Partners oder Familienmitglieds aus eigener Kraft zu bewältigen ist. Es wird alles dafür getan, um den Suchtkranken zu schützen.
Mit der Zeit entwickelt sich dann die Kontrollphase. Die Entwicklung dieser Phase dauert oft wenige Jahre. In dieser Phase ist das Verbergen der Sucht nicht mehr möglich. Angehörige verfallen in ein Verhalten der kontinuierlichen Kontrolle und Ermahnung, wenn das Suchtmittel zu häufig oder zu viel davon konsumiert wird. Jegliche Unterstützungsversuche scheitern und das Gefühl von Überforderung schleicht sich ein. Auf mehrere Jahre der Aufopferung folgt schließlich die Resignation der Angehörigen. Sie sind wütend, ratlos und möchten das Verhältnis so nicht mehr weiterführen.
Die dritte Phase ist die Anklagephase. In dieser Phase verstärkt sich die Sucht, die inzwischen sowohl beim Suchtkranken als auch bei der helfenden Person spürbare körperliche, seelische und zwischenmenschliche Auswirkungen hat, die teilweise auch nach außen sichtbar sind. Aggressives Verhalten, Isolation von anderen Menschen, Scham, Schuld, Enttäuschung, Hilflosigkeit und Zukunftsangst werden intensiv erlebt. Dieser gesamte Prozess dauert Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte!
Wie lässt sich Co-abhängiges Verhalten erkennen und welche Folgen hat es für Angehörige?
Suchtkranke verleugnen lange Zeit die eigene Sucht. Dadurch vermeiden sie, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Co-Abhängige verleugnen die Sucht des Suchtkranken zu Beginn und vergessen sich nach und nach selbst - sie flüchten in (übertriebene) Fürsorge. Sie erfüllen dadurch den Wunsch des Suchtkranken nach Versorgung und Schutz durch andere. Die eigenen Bedürfnisse und Gefühle der unterstützenden Person werden nach hinten gestellt und das gesamte Leben wird auf den Suchtkranken ausgerichtet. Die helfende Person entwickelt eine "Mir geht es gut, wenn es Dir gut geht!"-Einstellung. Sie wird zunehmend abhängig bzw. süchtig, den Süchtigen zu retten. Fürsorge wird damit zum Selbstzweck und dient indirekt auch der Befriedigung eigener Bedürfnisse. Dieses Verhalten führt allerdings zu Erschöpfung, Starrheit und Rechthaberei.
Gleichzeitig unterwirft sich der Co-Abhängige unbewusst dem Suchtkranken und übernimmt dauerhaft dessen Verantwortung. Ein verzwicktes Machtspiel hat sich manifestiert, bei dem beide Seiten zu kurz kommen. Die suchtkranke Person muss keine Verantwortung übernehmen und die angehörige Person kann unangemessene Kontrolle ausüben – eine Beziehungsstörung, die sich komplett am Leben des Suchtkranken ausrichtet. Je länger dieses Abhängigkeitsverhältnis andauert, desto stärker ist die Gefahr, dass Angehörige selbst erkranken und körperliche Symptome wie zum Beispiel Magenschmerzen oder psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, somatoforme Störungen oder selbst eine (Alkohol-)Sucht entwickeln. Ein Teufelskreis, bei dem das eigene Leben nicht mehr aufrechterhalten werden kann.
Wie lässt sich eine Co-Abhängigkeit überwinden?
Betroffene Angehörige haben oft jahrzehntelang eine Situation ausgehalten, die sie schließlich an ihre Grenzen bringt. In manchen Situationen fällt es dann erst Dritten, wie beispielsweise den behandelnden Ärzten des Suchtkranken auf, dass mehr als nur eine Person von einer Abhängigkeitssituation betroffen scheint. Wichtig ist, dass sich Angehörige bewusst dafür entscheiden, diese Co-Abhängigkeit aktiv zu durchbrechen, und selbst professionelle Hilfe bei medizinischen und/oder therapeutischen Fachpersonen in Anspruch nehmen zu wollen.
In den letzten Jahren wurden zahlreiche Angebote für Angehörige entwickelt, die sie dabei unterstützen sollen, sich selbst wiederzuentdecken. Dabei soll wieder gelernt werden, Verantwortung abzugeben und zugleich Liebe, Ehrlichkeit und Anerkennung geben zu können. Vor allem soll aber gelernt werden, sich selbst dabei nicht aus dem Blick zu verlieren. Spezielle Suchtberatungseinrichtungen unterstützen Angehörige auf diesem Weg. Oft hilft es ihnen auch, in Selbsthilfegruppen mit Gleichgesinnten darüber zu sprechen. Und manchmal hilft auch nur die harte Erkenntnis, dass eine Trennung die einzige Lösung ist, um sich selbst zu retten.
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Jörg Schaller ist Heilpraktiker Psychotherapie mit eigener Praxis und fortgeschrittener lösungsfokussierter Berater (IASTI, Level 2). In seiner täglichen Arbeit mit Klienten spannt er einen Bogen von den Erlebnissen der Vergangenheit, hin zum Hier und Jetzt und bis in die Zukunft hinein. Ein weiteres Angebot in seiner Praxis sind supportive, stützende Gespräche für Menschen in Krisensituationen. In seiner Freizeit ist der ausgebildete DOSB Trainer (Deutscher Olympia Sportbund) mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Tennisbereich sportlich aktiv. Eigene Kraft und Ruhe findet er im Lesen sowie in regelmäßigen kleinen Auszeiten in der Natur und den Landschaften Nord- und Ostdeutschlands. „Es ist das weite Land, die unaufgeregten Menschen dort sowie die Ruhe, die unvermeidlich ansteckend wirken und einen immer wieder selbst erden und klarmachen, wo man steht.“