Achtsamkeitsübungen: Von der Natur abgeschaut
Wie wir uns ein Vorbild an der Natur nehmen können und die dunkle Jahreszeit dazu nutzen, einzukehren und Kraft von innen heraus zu schöpfen.
Ich sitze hier, mit einer Tasse Chaitee in meinen Händen, am Fenster, spüre die angenehme Wärme an meinen Handinnenflächen und atme den Zimt-Hafermilchduft des Tees ein. Ich habe mir Zeit für eine ganz bewusste Teepause genommen und erlaube meinem Blick, in die Ferne zu schweifen. Er fällt auf einen kahlen Baum im Garten, der seine Äste nackt in den Himmel streckt. Er sieht kraftvoll aus, wenn auch seine Kraft nach innen zurückgezogen zu sein scheint. Ich erinnere mich daran, dass Bäume im Winter ihre Kraft tief nach innen hinein ins Wurzelwerk ziehen, um so den Winter gut zu überstehen. „Hm, ist das der Grund warum ich im Winter besonders gerne Zeit für Meditation verwende?“, frag ich mich.
Die Natur zeigt uns, dass alles einem Rhythmus unterliegt und seine Zeit hat. Sie geht im Winter nach innen, um im Frühjahr wieder zu erblühen. Auch wir sind Teil der Natur und bekommen im Winter durch die langen Dunkelperioden sowie die Kälte draußen ideale Bedingungen für ein innere Einkehr. Für uns Menschen kann dies allerdings ein zweischneidiges Schwert sein. Die Dunkelheit, der Rückzug kann uns innerlich nähren und erfüllen oder gespickt sein von vielen Grübelfallen – der Winterblues lässt grüßen. Ich selbst kenne beide Seiten und erinnere mich an einen Moment vor 15 Jahren als ich im Bett lag und fühlte wie die Welt mal wieder über mir zusammenzubrechen drohte. Ich machte damals eine schwere, wenn auch sehr transformierende Zeit durch und war viel von trüben Gedanken geplagt. Doch an diesem Morgen entschied ich mich, anstatt den Gedanken nachzuhängen, meinen rechten Fuß so intensiv wie möglich zu spüren. Was dann geschah, verblüffte mich. Es wurde von einem Moment zum anderen ruhig und friedlich in mir. Das Leben schien wieder händelbar, schließlich lag ich nur im Bett. „So einfach ist das?!“, dachte ich damals und mir schien, als hätte ich den Schlüssel für alle großen Probleme gefunden.
Dein Anker im Hier und Jetzt
Inzwischen weiß ich, dass ich damals intuitiv Achtsamkeit übte – eine Praxis, die dich dazu einlädt, im Hier und Jetzt anzukommen und aus dem Kopfkino auszusteigen. Sie kann dich darin unterstützen, innerlich zur Ruhe zu kommen, Freude, Liebe und Dankbarkeit zu vertiefen oder dir eine Pause in schweren Zeiten zu geben. Ihre Magie entfaltet sich durch ihre Schlichtheit. Es geht nur darum, der Aufmerksamkeit zu erlauben in einem Hier- und Jetzt-Anker zu verweilen bzw. sie immer wieder zurück zu holen. Meist werden hierfür Sinneswahrnehmungen wie das Atmen, Spüren, Sehen, Riechen, Schmecken etc. als Anker genutzt.
Der Zustand, der dadurch entsteht, ist eine Gegenwärtigkeit, die wir vielleicht aus Urlauben oder Entspannung kennen, die aber in unserem Alltag oft rar ist. Viele von uns sind in der Regel in Gedanken, die über Vergangenheit oder Zukünftiges kreisen oder wir fliegen weg in Fantasie-Analysen oder einen philosophischen Exkurs. Dass wir das können, zeichnet uns als Menschen aus. Das Denken hilft uns dabei, Fehler aus der Vergangenheit zu analysieren, um so für die Zukunft zu lernen. Fantasie kann uns helfen, Visionen und Ziele zu kreieren oder uns in leidvollen Momenten durch angenehme Vorstellungen Wohlgefühl zu verschaffen. Oftmals nehmen sie aber überhand, treiben uns an, halten uns in Grübelschleifen oder To-Dos gefangen. Sie gaukeln uns vor, dass die Zukunft wichtiger als das JETZT ist. Dass in ihr das Glück liegt, was uns antreibt oder dass in ihr ein Unheil droht, dass uns nun schon betrübt. Dabei gibt es, wenn man genauer hinschaut nur das JETZT. Denn auch die Zukunft kann sich nur in einem gegenwärtigen Augenblick entfalten. Das heißt, Glück kann nur im JETZT erlebt werden und eine Lösung für ein Problem kann sich nur von Augenblick zu Augenblick entfalten.
Durch Achtsamkeit können wir Abstand von unseren Gedanken bekommen und die Fülle des JETZT erfahren. Außerdem kann es sehr glücksstiftend sein, für einen Augenblick im Augenblick zu verweilen.
Spüre Deinen Atem
Studien zeigen, dass das regelmäßiges Üben von Achtsamkeit einen positiven Einfluss auf die psychische und körperliche Gesundheit hat. Selbstgewahrsein, Emotionsregulations- sowie Konzentrationsfähigkeit werden gestärkt und das Empathievermögen nimmt zu. Viele Meditierende berichten auch von einer Verbesserung ihrer sozialen Beziehungen. Und der Winter ist eine wunderbare Jahreszeit, um mit Achtsamkeit anzufangen oder sie zu vertiefen.
Hierfür gibt es eine ganze Reihe Übungen – formelle, Übungen die auf Ort und Zeit begrenzt sind, und informelle Übungen, die im Alltag bei Alltagshandlungen ausgeführt werden können. Das Prinzip ist immer dabei das Gleiche: Die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Hier und Jetzt zu lenken z.B. durch eine Sinneswahrnehmung. So gibt es beispielsweise die Atemmeditation, bei der sich die Aufmerksamkeit auf der Wahrnehmung des Atems ausruhen darf. Dazu kannst du deine Augen schließen. Wenn Du magst auch eine Hand auf den Bauch legen und spüren, wie und wo die Atmung Deinen Oberkörper bewegt. Wenn Dir die Konzentration schwer fällt, dann wiederhole innerlich mit jeder Einatmung „Ein“ und Ausatmung „Aus“. Wie lange Du das üben magst, kannst du selbst bestimmen. Zum Start empfehlen sich 5 Minuten, die sich mit der Zeit zu 20-30 Minuten entwickeln können – ganz individuell.
Wenn Dir das Spüren des Körpers oder das Wahrnehmen des Atems schwer fallen, dann probiere, Deine Aufmerksamkeit auf etwas im Außen zu lenken. Eine Blume bewusst anzuschauen oder eine Tasse Tee bewusst zu trinken.
Entdecke Deinen Anfängergeist
Bei diesen Übungen unterstützen Dich 7 Haltungen darin, in die Gegenwärtigkeit zu gelangen: Akzeptanz, Loslassen, Nicht-Erzwingen, Geduld, Vertrauen, Anfängergeist und Nicht-Urteilen. Zu akzeptieren, was im jetzigen Moment an Gedanken und Gefühlen in Dir ist, sowie das Äußere für einen Moment so anzunehmen wie es gerade ist, samt eventueller innerer Widerstände, kann ein großer Schlüssel sein, um ins JETZT einzutauchen. Dabei hilft es, zwischen Lebens- oder politischer Weltsituation und dem, was jetzt gerade ist, zu unterscheiden. Das Annehmen hilft, in die Achtsamkeit zu gelangen. Loslassen ist im Sinne von zulassen zu verstehen: Dem Moment zu erlauben, so zu sein wie er gerade ist und ihn zuzulassen. Geduld und Vertrauen helfen, uns für die Fülle des gegenwärtigen Moments zu öffnen, anstatt die Zukunft schon herbeizudenken. Der Anfängergeist beschreibt eine Haltung, mit der wir offen und neugierig, vielleicht sogar forschend, dem Jetzt begegnen. Kleinkinder sind darin große Meister. Das Nicht-urteilen verweist darauf, aus einem inneren Raum her wahrzunehmen, in dem beurteilende Gedanken für das, was sie sind, erkannt werden: beurteilende Gedanken und nicht die Wahrheit. Außerdem ist es ein Wegweiser und Türöffner für einen Raum in uns, in dem Erleben jenseits von Urteilen stattfinden kann. Schließlich tut das auch die Natur. Der Baum erlebt sicher auch die Kälte draußen, aber urteilt er darüber?
Ich schaue wieder zum Baum hin und umfasse meine Tasse Tee. Sie ist nun kalt geworden. Ich schließe meine Augen und nehme bewusst die Kälte an meinen Handflächen wahr und frage mich, bis wohin in meinem Körper diese Kälte der Tasse ausstrahlt. Ich merke, wie meine Aufmerksamkeit sich dann wie von selbst im Atem zentriert und wie ein Sog tiefer und tiefer nach innen geht. Für einen Moment wird es weit und hell in mir. Die Zeit scheint still zu stehen. Wieder aufgetaucht denke ich schmunzelnd: „Sogar für ein Gefühl der Zeitlosigkeit gibt es seine Zeit. Es lebe der Winter und die Meditation.“
Achtsamkeitsübung: Zeit für eine Tasse Tee
Nimm Dir die Zeit. Schau dir zu Beginn bewusst Deine Tasse an - so als hättest Du diese Tasse noch nie zuvor gesehen.
Was siehst Du?
Welche Farben siehst Du? Wie sehen die Farben aus?
Wie spiegelt sich das Licht in der Tasse? Und wie im Tee?
Welche Form hat sie?
Dann nimm die Tasse zwischen Deine Hände. Nutze beide Hände für Deine Tasse, auch wenn sie einen Henkel hat.
Wie fühlt sie sich an?
Halte nun Deine Nase über den Tee und nimm einen tiefen Atemzug.
Was riechst Du?
Was löst der Geruch in Dir aus?
Verändert sich der Geruch im Laufe eines Atemzugs?
Führe als nächstes Deine Tasse zum Mund. Nimm einen kleinen Schluck - ganz bewusst. Spüre wie die Flüssigkeit über die Kehle nach unten läuft und den Nachgeschmack auf Deiner Zunge.
Pausiere einen Moment, bevor Du den nächsten Schluck trinkst.
Über Caroline de Jong
Caroline de Jong arbeitet mit ihrem Hintergrund als Psychologin (MSc.), Körper-Psychotherapeutin, Achtsamkeits- und Yogalehrerin sowohl als Studientutorin als auch als Dozentin an der ALH-Akademie, an der sie u.a. die Ausbildung zum Achtsamkeitstrainer und Happiness Trainer entwickelt hat und betreut. Seit über 15 Jahren beschäftigt sie sich mit Positiver Psychologie, Bewusstseinsentwicklung und Ganzwerdung und freut sich über jeden, der auf diese Themen neugierig ist.