Retraumatisierung – Bedeutung & Auswirkung
von Johanna Neth, 08/23, Lesezeit: 6 Minuten
Wir leben in einer Welt, die immer mehr von Flucht, Krieg, Naturkatastrophen und menschengemachten Traumatisierungen heimgesucht wird. Menschen erleben unaussprechliche Dinge, werden verletzt – geistig und körperlich.
Was ist ein Trauma?
Unter einem Trauma verstehen wir Momente, in denen ein hilfloses und kontrollloses menschliches Gehirn den Eindruck hatte, dass die innewohnenden Ressourcen den äußeren Anforderungen nicht standhalten können.
Vorgänge im Gehirn
Es wird eine (evolutionär bedingte) Notfallreaktion ausgelöst, die dazu führt, dass die Großhirnrinde des Menschengehirns gar nicht mehr, oder nur noch partielle Einflussmöglichkeiten auf das Geschehen hat. Das Kleinhirn des Menschen übernimmt in einer solchen Notfallreaktion die Führung – doch es kann nur zwischen drei Reaktionen wählen: Kampf, Flucht oder Erstarrung (vgl. Hantke&Görges – Handbuch Traumakompetenz S. 68ff).
Diese geringe Auswahlmöglichkeit spart in lebensbedrohlichen Momenten Zeit – und Zeit, selbst Millisekunden – kann über Leben und Tod entscheiden. Während einer solchen Reaktion ist die Großhirnrinde oft nicht ganz abgespalten, sie hat aber wenig bis keine Zugriffsmöglichkeit. Da in der Großhirnrinde aber auch das Gedächtnis sitzt, werden Erlebnisse solcher Momente häufig nicht, oder nur in Bruchstücken im Gedächtnis gespeichert.
Entstehung des Traumas
Die Notfallreaktion ist also eine natürliche Reaktion des menschlichen Gehirns auf Situationen, die einen bedrohlichen Charakter haben und dient dazu das eigene Überleben zu sichern. Dabei wird in Kauf genommen, dass Erinnerungen an das Geschehene nicht korrekt oder nur in Fragmenten gespeichert werden können. Diese Reaktion als solche ist aber nicht unbedingt sofort ein gesetztes Trauma.
Damit wir von einem Trauma reden können, muss die Notfallreaktion mit einem Gefühl der Hilf und Kontrolllosigkeit einhergehen – und eine dauerhafte Erschütterung des Welt- und Selbstverständnisses auslösen (Riedesser und Fischer, 1999).
Die Gefühle der Kontroll- und Hilflosigkeit sind maßgeblich beitragend zu der Entstehung eines Traumas – vor allem, wenn der betroffene Mensch im Nachhinein keine, oder zu wenig Möglichkeiten hat, das Erlebte zu verarbeiten. Verarbeitung heißt – Inhalte kohärent im Gedächtnis abzuspeichern und zu integrieren. Hantke & Görgres sagen dazu: „Erst wenn über längere Zeit keine Möglichkeit besteht, die Erfahrungen zu verarbeiten, die während des Ereignisses nicht integriert werden konnten, sprechen wir von einem Trauma.“ (Hantke,Görges, Handbuch Traumakompetenz, 2023; Seite 63).
Wie verhält sich ein traumatisierter Mensch?
Menschen, die traumatisierende Erlebnisse hatten, haben das Geschehene nicht verarbeitet. Da ist etwas mit ihnen passiert, von dem sie manchmal nicht einmal genau wissen was da eigentlich passiert ist, was aber große Auswirkungen auf sie hat. Durch die oben beschriebene Notfallreaktion konnte das Geschehene nicht im Gedächtnis abgespeichert werden. Dies hat zur Folge, dass sich bei dem betroffenen Menschen das Gefühl des „Vorbei/ Das liegt in meiner Vergangenheit/ Das gehört nicht ins Hier und Jetzt“ nicht einstellen kann – unverarbeitete Inhalte sind präsent im Hier und im Jetzt.
Der Köper zeigt verschiedene Versuche, das in seinem System umherschwirrende Unverarbeitete zu integrieren, manchmal mit Erfolg, häufiger aber ohne.
Symptome eines Traumas
Wie oben schon beschrieben erlebt der Körper etwas, was das Gehirn kaum, fragmenthaft, oder gar nicht erinnern kann.
Reizbarkeit, Unruhe und Antriebslosigkeit
Diese Körpererinnerungen erzeugen Symptome, die sowohl in einer „Hochspannung“ auftreten, also zu Zeiten, in denen der Organismus eher angespannt ist – (hier kann man Ein- und Durchschlafstörungen zu zählen, Reizbarkeit/Aggressivität, Schreckhaftigkeit/ Angst, Hypervigilanz, Verspannungen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen etc..) als auch aus der Unterspannung heraus Symptome bilden – hier beobachten wir eher rückzügiges Verhalten, Depressionen, Antriebslosigkeit, Ohnmachtsanfälle oder auch plötzliches Einschlafen.
Wachsamkeit und Aufgedrehtheit als Symptom eines Traumas
Oftmals wechseln sich Symptome aus der Hoch- und Unterspannung ab und treten somit im Alltag gemischt auf – Der Körper versucht mit aller Kraft das Unverarbeitete zu integrieren, geht dafür in die Hochspannung und verbraucht dafür viel Energie. Diese kann er nur für einen bestimmten Moment aufrechterhalten, danach muss der Körper sich erholen und neue Kraft tanken – er fährt in die Unterspannung und zeigt dann deren Symptome, bis er wieder genug Kapazitäten hat erneut in die Hochspannung überzugehen.
Wir erleben also Menschen, die selten eine - mit der Gesellschaft vergleichbare übliche Spannung haben, sondern eine Tendenz zum „zu doll“ aufweisen – Sehr wach, sehr konzentriert, sehr laut, sehr reizbar, sehr schreckhaft, sehr aggressiv - oder zu unkonzentriert, zu traurig, zu müde, zu langsam, zu unsozial.
Auch Konzentrationsschwierigkeiten, eine verzerrte Wahrnehmung von Zeit und Raum, wiederholt auftretende Flashbacks sind Symptome von Traumata.
Substanzmissbrauch oder Zwangsstörungen möglich
Das Gehirn versucht, die auftretenden Symptome einzuordnen und oder startet Versuche der Gegenregulation. Man kann einen erhöhten Alkohol und Substanzmissbrauch feststellen, außerdem entwickeln einige Menschen Zwangsstörungen in einem hilflosen Versuch wieder Kontrolle zu erlangen.
Die Symptome einer Traumatisierung sind umfassend und mannigfaltig – sie können erst Jahrzehnte nach einer Traumatisierung auftreten, können sich nur in bestimmten Situationen zeigen oder sich generalisieren. Die Diagnostik einer Traumafolgestörung gehört somit immer in die Hände von Expert*innen.
Retraumatisierung
Wenn wir als Fachpersonal es mit Menschen zu tun haben, die ein oder mehrere Traumatisierungen erlebt haben, besteht die Gefahr, dass wir unabsichtlich retraumatisieren.
Unter Retraumatisierung versteht man eine erneute Traumatisierung durch die Konfrontation mit traumaassoziierten Reizen.
Wie entsteht eine Retraumatisierung
Dies kann z.B. durch zu intensives Erfragen des Trauma-Geschehens ausgelöst werden, wenn:
- Der Adressat/ die Adressatin das Geschehene gegen ihren Willen erneut detailliert wiedergeben soll
- Der Adressat/ die Adressatin keine Kontrolle darüber hat wieviel Er/ Sie preisgeben kann
- Dem Adressaten/ der Adressatin nicht deutlich gemacht wird, dass Er/ Sie nicht auf Fragen Antworten muss
- Der Adressat/ die Adressatin sich erneut als Opfer fühlt, dessen Grenzen überschritten werden
- Der Adressat/ die Adressatin die Fragen als übergriffig empfindet und aufgrund seiner Historie nicht in der Lage ist, sich dagegen abzugrenzen.
Retraumatisierung vermeiden
Fachpersonal, das mit traumatisierten Menschen arbeitet, muss also sehr achtsam im Kontakt sein, das größte Ziel ist es, sich selbst in seinem Tun vorhersehbar zu machen und seinem Gegenüber die größtmögliche Kontrollerfahrung, und damit Sicherheit zu vermitteln. Gelingt ihnen dies nicht, und findet eine Retraumatisierung statt, so lassen sich dieselben mannigfaltigen Symptome beobachten wie nach der ersten Traumatisierung.
So kann #Retraumatisierung durch Therapie passieren, wenn der/die Therapeut*in die Grenzen des Gegenübers nicht wahrt - zu schnell und zu unvorsichtig fragt und de*r*m Klient*in nicht die Kontrolle dessen überlässt was zu öffnen dieser bereit ist.
Traumasensibel arbeiten
Möchte man traumasensibel arbeiten, ist es unerlässlich, Grenzen zu akzeptieren – und manchmal sogar für das Gegenüber Grenzen festzulegen. Menschen, die traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, haben erlebt, dass man über Ihre Grenzen hinweg gegangen ist- manche Menschen haben niemals gelernt eigene Grenzen zu erkennen, weil über diese stetig hinweg gegangen wurde. Es gehört also zur Aufgabe von Fachmenschen diese für die Klient*innen zu ziehen und darauf zu achten diese zu wahren.
Retraumatisierung durch Trigger
Anders verhält es sich mit der Retraumatisierung durch Trigger. Bestimmte auslösende Reize können wir selbstredend vermeiden – so sollte jedem Menschen der traumasensibel arbeitet z.B. klar sein, dass niemals ungefragter Körperkontakt stattfindet – auch nicht, wenn dieser als Trost dienen soll. Hier auf Konsens zu achten – also darauf, sich vorher die Erlaubnis einzuholen die/die zu Tröstende*n anfassen zu dürfen- ist obsolet.
Es gibt aber viele Trigger, die gar nicht bekannt sind – oder die sich verändern.
Versuche, Trigger zu vermeiden ist müßig und schier unlösbar – vor allem aber auch selten alltagstauglich. Mensch, der/die in Beratung oder Therapie geht, braucht vor Ort einen absolut sicheren Platz, hier können wir Traumasensibel gestaltend Einfluss nehmen. Aber besagter Mensch muss sich durch diese Welt bewegen und kann bestimmte Trigger nicht vermeiden. Es liegt also an uns Fachleuten, traumatisierte Menschen wieder zu einem Leben zu verhelfen, in dem sie selbst gut für sich Sorgen können, wenn ihnen Trigger begegnen.
Die Hauptaufgabe liegt also neben dem Wahren von Grenzen auch darin, mit Menschen zu erarbeiten, woran dieser merken kann, dass gerade alte Gefühle angestoßen werden – und wie damit umgegangen werden kann.
Trauma-Sensibilität in der Gesellschaft
Auch gesellschaftlich wäre es wünschenswert, wenn ein traumasensibler Umgang stattfinden würde – so könnte z.B. auf Veranstaltungen auf laute Knalleffekte verzichtet werden die vor allem bei Menschen mit Kriegserfahrungen als Trigger dienen können.
Es zeigt sich, dass langsam ein größeres Bewusstsein entsteht, viele Medien schalten Triggerwarnungen im Voraus- ein einfaches und hilfreiches Mittel. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir gesellschaftlich an einem Punkt angekommen sind, an dem ein traumasensibler Umgang miteinander zum Alltag geworden ist – dabei schadet ein solcher Umgang niemanden. Wenn wir einander mit Achtsamkeit, Wertschätzung, Toleranz und Empathie begegnen würden, könnte diese Welt dadurch ein bisschen besser gemacht werden.
Wenn Du das Leid traumatisierter Menschen durch eine professionelle Begleitung verringern möchtest, schau Dir unsere Ausbildung zum Traumafachberater an.
Über Johanna Neth
Johanna Neth arbeitet seit 2013 bei der Arbeitsgemeinschaft für Wohngruppen und sozialpädagogische Hilfen Hannover e.V., wo sie die ersten Jahre überwiegend die stationäre Hilfe aber auch ambulante und mobile Betreuung der Klienten übernahm. 2018 wechselte sie intern in die Sozialpädagogische Familienhilfe. Seit Oktober 2022 leitet sie die heilpädagogisch- therapeutische Wohngruppe. Im Mai 2018 hat Neth zusätzlich die Weiterbildung zur Traumapädagogin und Traumazentrierten Fachberaterin am Institut Berlin erfolgreich abgeschlossen und ist nun Dozentin an der ALH-Akademie.