Das Genogramm als systemisches Tool
von Isabelle Allstadt, 12/2023, Lesezeit: 5 Minuten
Geno… - was?! Viele haben das Wort Genogramm noch nie gehört oder wissen nicht so genau, was es damit auf sich hat. In der Beratung, in der systemischen Therapie, im Coaching oder auch in der Psychotherapie wird mit Genogrammen gearbeitet. Wie genau man ein Genogramm erstellt, wozu es genutzt wird und was das Ziel eines Genogramms ist, erfährst Du in diesem Artikel.
Was ist ein Genogramm?
Ein Genogramm ist eine grafische Darstellung eines Familiensystems oder eines Teams. Es wird meist aufgezeichnet und ähnelt einem Familienstammbaum. Jedoch geht ein Genogramm über die herkömmliche, ausschließlich genetische Darstellung eines Familiensystems hinaus. Ein Genogramm erfasst ebenfalls emotionale, soziale und gesundheitliche Aspekte. Es können außerdem ungelöste Konflikte, familien-/ unternehmensinterne Zielsetzungen oder Loyalitätsbekundungen verdeutlicht werden.
Genogramme werden meist mit Personen erstellt, die ein Anliegen oder einen Veränderungswunsch mitbringen. Die Aufzeichnung eines Genogramms eröffnet neue Betrachtungsweisen und deckt Zusammenhänge zwischen Generationen oder Teamstrukturen auf. Innerhalb von Teams oder Familien werden beispielsweise unterbewusst häufig Rollen zugeschrieben oder stille Aufträge über Generationen weitergegeben.
Ursprünge des Genogramms
Die Ursprünge der Genogrammarbeit lassen sich in der Familienmedizin finden. In der Medizin wurden Genogramme dazu genutzt, um Krankheitsverläufe nachzuvollziehen – beispielsweise, wenn nahe Verwandte bestimmte, ähnliche Erkrankungen haben oder ein auffälliges Gesundheitsverhalten gezeigt wird (sportlich aktiv, riskanter Alkoholkonsum usw.). Genogramme helfen dabei, Risikofaktoren zu erkennen und Präventivmaßnahmen einzuleiten. Durch die übersichtliche Darstellung der gesundheitlichen Entwicklung einer Familie lassen sich leicht generationsübergreifende Zusammenhänge finden, die sich die Medizin zunutze machen kann.
Symbolik in der Genogrammarbeit
In der Arbeit mit Genogrammen wurden spezifische Darstellungsformen festgelegt, um mit einer einheitlichen Codierung zu arbeiten. Diese gehören zum Standard der Genogrammarbeit. Sie dienen dazu beispielsweise Beziehungen, Lebensumstände und Geschlechter aufzuzeigen. Wenn ein Genogramm angefertigt wird und nach einiger Zeit noch einmal betrachtet wird, ist so ein Wiedererkennungswert garantiert.
- Symbole: Beim Darstellen von Familienkonstellationen in Genogrammen, gibt es bestimmte Symbole, um festgelegte Geschlechter zu differenzieren. So steht ein Kreis für Frauen und ein Quadrat für Männer. Zusätzlich gibt es Symbole für nicht binäre Personen oder transgender männlich oder weiblich.
- Linien: Die Verbindungen einzelner Familien- oder Teammitgliedern werden durch Linien dargestellt. Es gibt spezielle Linien, die die Beziehungen zwischen den jeweiligen Personen verdeutlichen. Zum Beispiel können Eheschließung, Scheidung, Geschwister- und Eltern-Kind-Beziehungen dargestellt werden. Eine durchgezogene Linie zwischen zwei Personen steht beispielsweise für eine Ehe, eine gestrichelte symbolisiert hingegen eine Verlobung. Eine Scheidung wird durch eine Linie symbolisiert, die durchgestrichen ist.
- Farben: In der Arbeit mit Genogrammen können Farben benutzt werden, um die Qualität von Beziehungen zu verdeutlichen. Dabei könnte rot eine kritische, angespannte Beziehung darstellen, die Farbe Grün hingegen eine gute Bindung. Farben können jedoch sehr unterschiedlich genutzt werden, was bei der Besprechung des Genogramms mit Patientinnen und Patienten oder Kundinnen und Kunden besprochen werden muss.
- Symbole für Ereignisse: Andere Symbole weisen auf spezielle Ereignisse hin. Geburten, Todesfälle, familiäre Streitigkeiten oder Erkrankungen können so abgebildet werden. Eine Fehlgeburt wird zum Beispiel mit einem Kreis/Quadrat, welches schwarz ausgefüllt ist, dargestellt. Eine Schwangerschaft wird durch ein Dreieck symbolisiert.
- Zusatzinformationen: Die Person, die das Genogramm anfertigt, ist es zudem möglich zusätzliche Informationen dem Genogramm zuzuschreiben. Wenn es irgendwelche relevanten Lieblingskinder, Umbrüche, Haltungen, Wertvorstellungen innerhalb einer Familie gibt, ist es spannend, sich diese zu notieren. Aus diesen zusätzlichen Informationen können spannende Zusammenhänge deutlich werden.
Quelle: Eigene Darstellung, nach SCHWING & FRYSZER 2012, S. 64
In welchen Berufsgruppen taucht die Genogrammarbeit auf?
Mit Genogrammen wird in vielen unterschiedlichen Berufsgruppen gearbeitet. Es wird für unterschiedliche Ziele genutzt, da ein Genogramm verschiedene Blickwinkel ermöglicht. Ausschlaggebend ist dabei, mit wem das Genogramm betrachtet wird und welches Anliegen hinter der Betrachtung steht.
- Systemische Therapie: In der systemischen Familientherapie wird häufig mit Genogrammen gearbeitet. Durch die schematische Darstellung von familiären Verbindungen können leicht Problemursachen und Zusammenhänge aufgedeckt werden.
- Medizin: In der Medizin wird die genetische Sicht auf Familien durch Genogramme ermöglicht. Krankheitsverläufe und sich wiederholende Krankheiten können so aufgezeigt und erkannt werden.
- Psychotherapie: In der Therapie wird meist in den ersten Sitzungen mit einem Genogramm gestartet. So hat die Therapeutin oder der Therapeut direkt eine grobe Übersicht über die familiäre Situation des Patienten oder der Patientin. Mit dem Genogramm kann auch im weiteren Verlauf der Therapie gut gearbeitet werden. So können neue Erkenntnisse hinzugefügt und eventuelle Verschiebungen eingezeichnet werden.
- Genealogie: Die Ahnenforschung nutzt Genogramme, um Verwandtschaftsbeziehungen nachverfolgen zu können.
- Sozialarbeit: In der Sozialarbeit werden Genogramme genutzt, um familiäre Probleme zu erkennen und Lösungen für diese zu suchen.
- Forschung: Aus Forschungsperspektive sind Genogramme ebenfalls sehr aufschlussreich. So können anhand der Familienaufstellung familiäre Einflüsse auf Entscheidungsprozesse nachvollzogen werden.
- Pädagogik: Im Schulalltag verwenden Lehrerinnen und Lehrer Genogramme, um einen besseren Einblick in die Biografien der Schülerinnen und Schüler zu erhalten. So können sie individuell auf die Heranwachsenden eingehen.Coaching: Die Nutzung von Genogrammen im Coaching ermöglicht eine tiefgehende Exploration familiärer Muster und Dynamiken. Durch die grafische Darstellung von Generationenbeziehungen bietet das Genogramm dem Coach und dem Klienten eine visuelle Grundlage, um familiäre Einflüsse auf individuelles Verhalten zu verstehen. Dies fördert bewusstere Selbstreflexion und unterstützt den Coachingprozess dabei, tief verwurzelte Themen anzugehen und transformative Veränderungen zu erleichtern.
- Organisationspsychologie: Ein Team als Genogramm darzustellen, birgt spannende und neue Erkenntnisse über die beteiligten Personen am Arbeitsplatz. So können Kommunikationsprobleme und Konflikte beleuchtet und angegangen werden.
Wie wird ein Genogramm erstellt?
Zunächst interessieren bei der Erstellung des Genogramms Fakten über die gegenübersitzende Person. Gestartet wird mit der Frage, welche Personen zur Familie gehören. Nach dieser Information wird zu demografischen Daten übergegangen. Dazu gehört zum Beispiel der ethnische Hintergrund, Angaben zu Geburt und Sterbedaten, Wohnort und Ausbildungsstand. Sind alle Fakten gesammelt, geht es in die Detailarbeit. Es wird nach Beziehungen, Verbindungen, Bindungsqualität, Beruf und sonstigen Rahmenbedingungen gefragt.
Welche Fragen werden bei der Erstellung von Genogrammen gestellt?
Das Anliegen der Person, deren Genogramm erstellt werden soll, bestimmt die Fragen, die durch den Coach, die Therapeutin oder den Therapeuten gestellt werden. Dabei ist es wichtig, dass die Fragen ressourcenorientiert formuliert werden, egal wie belastet ein familiäres System oder Team zu sein scheint. Die Würdigung, was eine Familie oder ein Team geschafft hat, steht hier im Vordergrund. Im Folgenden erfährst Du einige Beispielfragen.
Fragen nach Geschwistern: Durch die Frage nach Geschwistern, werden Positionen innerhalb einer Familie sehr einfach und prägnant verdeutlicht. Ist die Person, mit der das Genogramm erstellt wird, Erstgeborener? Gibt es lange zeitliche Abstände zwischen den Geschwistern? Gibt es Adoptivgeschwister oder Halbgeschwister? Gibt es verstorbene Geschwister?
Fragen nach Beziehung: Welche Beziehungen wirken über Generationen? Gibt es viel Nähe innerhalb der Beziehungen? Wer in der Familie hat wenig Beziehungen? Wer wechselt häufig den Partner oder die Partnerin? Welche Rollen gibt es im Team? Wer versteht sich mit wem?
Fragen nach Werten: Gibt es Glaubenssätze innerhalb der Familie? Hält sich die Familie an spezifische Wertvorstellungen? Gibt es eine Zielvision als Team?
Fragen nach Themen: Welche Themen beschäftigen/ beschäftigten die Generationen? Gibt es Tabuthemen?
Fragen nach wichtigen Lebensabschnitten: Welche Übergänge gab es zu meistern? Gab es gewollte/ ungewollte Wechsel? Welche Erfolge und Rückschläge hat die Familie oder das Team gemeistert?
Fragen nach (Familien-/ Team-) Mottos, Lebenseinstellungen: Welche ungeschriebenen Regeln gab oder gibt es? Welche Haltung war oder ist prägend für Einzelpersonen, Paare oder Familien? Welche Einstellungen/ Haltungen gelten zum Beispiel in Krisen, bei Konflikten, Chancen, Entscheidungssituationen?
Fragen nach Geheimnissen: Welche Themen blieben (stets) im Verborgenen? Von welchen Geheimnissen wissen nur einzelne Personen etwas? Wo werden weitere Geheimnisse vermutet?
Diese und viele weitere Fragen können bei der Erstellung eines Genogramms helfen. Basierend auf den Fragen und Antworten, werden Hypothesen erstellt, die Erkenntnisse auf Fragen oder Anliegen der Personen bieten. Wiederholte Glaubenssätze oder wiederholtes Verhalten, die in Verbindung mit aktuellen Problemen oder Krisen gebracht werden, wird deutlich, dass sich mehrgenerationale Probleme wiederholen. Mit diesen Erkenntnissen kann Veränderung angesteuert werden.
Tipps für die Erstellung eines Genogramms
Auf die Vorbereitung kommt es an. Das Austeilen eines Fragebogens, in dem bereits erste Daten der Patientin oder des Patienten bzw. der Klientin oder des Klienten erfasst sind. So kann das Grundgerüst eines Genogramms schon vorbereitend erstellt werden. Genogramme dürfen individuell gestaltet werden und unterliegen nicht zwangsläufig einer vorgegebenen Gestaltung. Wichtig ist, dass die Person das Genogramm verstehen kann, damit neue Erkenntnisse gemeinsam gewonnen werden. Es hilft, ein Genogramm so zu visualisieren, dass es komplett betrachtet werden kann. Wenn eine Person das erste Mal das Team oder Familiensystem „schwarz auf weiß“ betrachtet, kommen meistens schon die ersten „aha-Momente“.
Ziel eines Genogramms
- Betrachtung eines Teams oder Familiensystems aus neuen Perspektiven.
- Erkennen von Mustern innerhalb von Teams oder Familien.
- Die Weiterentwicklung ist im zeitlichen Verlauf immer möglich.
- Durch aufgedeckte Risikofaktoren ist Prävention möglich.
- Das Genogramm gibt Sitzungen einen roten Faden.
Genogramm als Struktur einer Entwicklung
Genogramme dienen als roter Faden in der Betrachtung sozialer Beziehungen und Bearbeitung von Problemen und Anliegen genutzt werden. Im Verlauf einer Therapie oder eines Coachings können stetig neue Erkenntnisse eingetragen, Entwicklungen vermerkt oder Veränderungen dokumentiert werden. Je nachdem, mit welcher Person und mit welchen Anliegen ein Genogramm betrachtet wird, werden ganz andere neue Hypothesen aufgestellt.
Über Isabelle Allstadt
Isabelle Allstadt ist freiberuflich als Autorin für die ALH tätig. Im Anschluss an ihr Studium (M.A. Erziehungswissenschaften) legte sie im Jahr 2022 die Approbation als Psychotherapeutin für Kinder- und Jugendliche im Bereich Verhaltenstherapie ab. Isabelle verfasst aber ebenso gerne Texte, wie sie mit Menschen arbeitet und teilt Informationen aus der Welt der Psychologie und Psychotherapie mit uns.