Epigenetik: Die Vererbung von Traumata
Meine Tochter steht neben mir in der Küche und ich greife über sie hinweg zur Tür des Geschirrschranks, um ein paar Teller einzuräumen. Plötzlich zuckt sie zusammen, reißt beide Arme schützend über ihren Kopf, so als wolle sie einen Schlag abwehren. Wir schauen uns an und sind wie erstarrt. Was ist da gerade passiert? Meine Tochter blickt mich völlig irritiert an und sagt: „Was war das denn? Ich hab‘ gedacht, Du willst mich schlagen".
Ich werde unsicher. Meine Gedanken springen in die Vergangenheit. Ich erinnere mich: Wie oft habe ich solche Situationen erlebt, als ich meinen Kopf schützen musste. Ich habe Angst. Angst, so zu werden wie meine Mutter. Seit ich selbst Mutter bin, schwebt dieses Damoklesschwert immer über mir. Das Damoklesschwert des Gedankens: „Menschen, die selbst misshandelt wurden, werden später selbst zu Tätern. Das liegt in den Genen.“
Ich nehme mein Mädchen in den Arm und wir lassen unsere Tränen laufen. Wir haben uns beide erschreckt und wissen instinktiv ganz genau, was da gerade passiert ist. Es macht uns hilflos. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich meiner Tochter erzählt, wie schwer meine Kindheit war. Sie hat mitbekommen, wie ich mit Anfang 40 in eine schlimme Burn-Out-Depression gefallen bin. Im Zuge der Reha-Maßnahme kam heraus, dass ich über 30 Jahre lang, „recht erfolgreich“ mein eigenes Kindheitstrauma verdrängt hatte. Aber ich kämpfte gegen die Dämonen meiner Vergangenheit an und lernte unglaublich viel über das, was im Körper vor sich geht, wenn ein Mensch traumatisiert wird. Und ich lernte, was es bedeutet, jahrzehntelang unbewusst an den Traumafolgestörungen zu leiden.
Das Thema ließ mich nie los und mit 46 Jahren entschloss ich mich dazu, eine komplett neue Ausbildung zu machen und schrieb mich an der Universität Trier in den Bachelorstudiengang Psychologie ein. Im Rahmen des Vertiefungsseminars Biologische Psychologie lernte ich die Mechanismen der Epigenetik kennen. Die Epigenetik ist eine Wissenschaft und der Biologie zugeordnet.
Sie befasst sich in erster Linie mit der Erforschung der Genaktivität in den Zellen, die z.B. für die Entwicklung der unterschiedlichen Arten von Körperzellen zuständig ist. Darüber hinaus untersucht die Epigenetik die Veränderungen in der Genaktivität, die nicht auf Mutationen oder Rekombinationen zurückzuführen sind und die trotzdem an die sogenannten Tochterzellen vererbt werden und von denen vermutet wird, dass sie mit der Vererbung von Traumata zu tun haben.
Die Veränderungen, die im Laufe eines Menschenlebens an den Chromosomen stattfinden, werden somit epigenetische Veränderungen oder auch Prägung genannt.
Einige gute Beispiele, um die Epigenetik zu verstehen, findet man z.B. in den Studien der Zwillingsforschung. Die Forscher untersuchten hier im Speziellen eineiige Zwillinge, deren Erbinformationen bei der Geburt absolut identisch sind. Und trotzdem können sie sich völlig unterschiedlich entwickeln. Beide Geschwisterkinder haben eine identische genetische Basis, aber die sogenannten epigenetischen Faktoren (z.B. Umwelteinflüsse, Ernährung, Erziehung etc.) verursachen unterschiedliche Expressionen, die sich z.B. im Aussehen klar erkennen lassen.
Was hat jetzt aber die Epigenetik damit zu tun, dass meine Tochter einen nicht vorhandenen Angriff in Form eines Schlages abwehren wollte? In der Wissenschaft wird das mit der sogenannten transgenerationalen Weitergabe von Traumata erklärt. Diese wird auch kurz als Trauma-Vererbung bezeichnet. Im Rahmen der epigenetischen Forschung wurde festgestellt, dass es gewisse epigenetische Faktoren gibt, die sich auf die Aktivierung und Expression der DNA auswirken können. Diese wiederum sind für die Veränderungen verantwortlich.
Ein eindrucksvolles Ergebnis dieser Forschung wurde bei der Untersuchung des sogenannten Hungerwinters 1944/45 in den Niederlanden zum Ende des zweiten Weltkrieges festgestellt. Die Menschen dieser Zeit litten unter dem deutschen Nahrungsmittel-Embargo.
Es wurde festgestellt, dass die Babys, die während bzw. nach dieser entbehrungsreichen Zeit auf die Welt kamen, wesentlich kleiner und leichter waren als Babys, die unter normalen Umständen geboren wurden. Der Wissenschaftler Bastiaan Heijmans und sein Team von der niederländischen Universität Leiden vermuteten eine Auswirkung auf die Genstruktur der „Hungerzeit-Babys“. Heijmans und seine Kollegen untersuchten die Auswirkungen der Nahrungsmittelknappheit auf das Erbgut von 60 damals geborenen Babys. Dabei wurde nicht die Basenfolge der Gene betrachtet, sondern die Veränderung der oben genannten Methylierung analysiert. Interessant ist hierbei, dass diese Methylgruppen variabel und nicht für immer und ewig festgelegt sind. Anders als die festgelegte Basenfolge der DNA verändert sich also die Methylierung im Laufe eines Lebens.
Ein weiterer Punkt, der für die Vererbung von Traumata spricht, ist die Tatsache, dass auch menschliche Beziehungen einen Einfluss auf das Epigenom und damit auch auf das spätere Leben und die Gesundheit haben können. Ein Säugling, der nicht genügend Zuwendung, Liebe und Geborgenheit erhält, wird im weiteren Leben Bindungsprobleme ausbilden. Aber nicht nur das, auch Störungen im Stresshormon-System können biologisch nachgewiesen werden.
Der Depressionsforscher Florian Holsboer sagte in Bezug auf die epigenetischen Markierungen: „Traumata sorgen nicht nur für Narben in der Seele, sondern auch für Narben im Erbgut.“ Epigenetiker fanden zudem heraus, dass sich diese Narben auch im Erbgut der Keimzellen befinden und somit weitervererbt werden können.
Und damit schließt sich nun der Kreis um die reflexartige Abwehrreaktion meiner Tochter. Natürlich ist mir bewusst, dass ich in diesem konkreten Fall nur spekulieren kann, denn wir haben keinen Genomstatus untersucht. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass meine Mutter und Großmutter sowie ich selbst körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt waren, stellt sich der Verdacht auf, dass möglicherweise auch reflexartige Verteidigungsmechanismen über die epigenetische Veränderung / Prägung weitergegeben werden könnten.
Immerhin konnten einige Forscher schon nachweisen, dass Emotionen und Gedanken, die wir im alltäglichen Leben empfinden, Einfluss auf die Epigenetik unseres Erbgutes haben können. Denn aus Emotionen und Gedanken entwickeln sich über längere Zeiträume emotionale Charakterzüge und Gedankenmuster, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind. Diese haben wiederum einen Einfluss auf unser Unterbewusstsein und können sich als Prägung etablieren. Dadurch kann es zu einer Veränderung der Aktivität von verschiedenen Genen durch die Methylierung kommen.
Aus diesem Grund ist die psychische Gesundheit in der Kindheit so wichtig. Denn Kinder, die misshandelt, missbraucht, gemobbt, vernachlässigt oder anderweitig psychisch verletzt wurden, haben eine ganz andere Genaktivität als diejenigen, denen es gut ging und die behütet aufwuchsen. Die Epigenetik hat in verschiedenen Fällen gezeigt, dass z.B. die Stressanfälligkeit, das Risiko Depressionen, Angststörungen und/oder kardiovaskuläre Erkrankungen zu erleiden, prozentual betrachtet höher ist, wenn der Embryo bereits im Mutterleib vermehrt Stress erlitten hat.
Aber auch einen positiven Aspekt hat die Diskussion um die Epigenetik und die Veränderung der Erbstruktur mit sich gebracht. Wie bereits erwähnt ist die Prägung, also die epigenetische Veränderung durch die Methylierung, nicht festgelegt ist. So hat jeder Mensch, der selbst ein oder mehrere Traumata erlitten hat und möglicherweise auch noch unter den Auswirkungen von transgenerational vererbten Traumata leidet, immer die Möglichkeit, die Prägung des eigenen Genoms zu verändern.
Wir können aus der Rolle des Opfers in die Rolle des Erschaffers, der eigenen Genprägung schlüpfen, indem wir uns weiterentwickeln. Wir haben es selbst in der Hand, ob wir im Trauma-Vererbungs-Kreislauf bleiben oder diesen durchbrechen. Vor allem Glaubenssätze und Gedankenmuster spielen hierbei eine große Rolle. Durch eine bewusste Wahl und die Kontrolle der Faktoren wie z.B. die Verminderung von Stress, eine gesunde und ausgewogene Ernährung, Selbstfürsorge und vieles mehr, können wir die vernarbten methylierten Genstränge „bereinigen“ und aus dem Kreislauf des Traumas aussteigen.
Denn eines ist sicher, wir wollen doch alle ein glückliches und erfülltes Leben führen und das können wir nach unseren eigenen Vorstellungen gestalten. Wir müssen nur den Schritt in die Richtung einer positiven Veränderung gehen!
Über die Autorin:
Stella Falkenberg hatte schon immer das Bestreben, Menschen zu helfen. Nach ein paar Zwischenstationen führte sie ihr Weg 2017 an die Universität zu Trier, wo sie erfolgreich ihren Bachelor of Science in der Psychologie abschloss. Um weiterhin mental in Bewegung zu bleiben und mehr über die Mechanismen von Traumata zu erlernen, begann sie im April 2021 ihre Ausbildung zur Traumafachberaterin an der ALH-Akademie.